Leseprobe Mutters Seele

Dagmar   54

„Eigentlich war alles gut, so wie es gewesen ist, sonst wäre nicht das aus mir geworden, was ich heute bin!“

Es kann sich keiner vorstellen, wie stolz ich war und welches Glück ich empfunden habe, als mein Bruder mir vor gar nicht langer Zeit diese Worte sagte. Er lebt heute in Schweden mit seinem Mann, hat ein gutes Auskommen und ein Haus, das immer voller Verwandtschaft ist. Vor längerer Zeit wollten die beiden Männer ein Kind adoptieren aber dann ist ihnen klar geworden, dass sie ja ständig von den Jungen und Mädchen ihrer Geschwister besucht, von ihnen geliebt und geschätzt werden. Jetzt gehören sogar Enkelkinder dazu. Das Paar ist zu dem Schluss gekommen, dass so ihr Kinderwunsch befriedigt ist. All die fröhlichen Nachkommen aus ihren Familien sind ihnen willkommen. Die Beiden freuen sich jedes Mal, wenn sich Besuch ankündigt.

Ich war erst sechs Jahre alt, als mein Bruder Holger geboren wurde. Zunächst war es für mich selbstverständlich, dass ich mich um den Kleinen kümmerte, wenn meine Mutter immer wieder mit Kopfschmerzen krank das Bett hütete.

Den Zeitpunkt, wo das alles zu viel für mich war, habe ich gar nicht so richtig gemerkt, so war eben unser Alltag. Mama schluckte viele, viele Gelonida, später kam noch der Alkohol dazu. Lange habe ich nicht mitbekommen, dass in den Flaschen mit ganz normalen Etiketten, aus denen wir umgotteswillen nicht trinken sollten, Schnaps drin war.

Kam ich aus der Schule, wurde ich gleich mit den Worten empfangen: „Die Wäsche und der Abwasch müssen noch gemacht werden! Sieh zu dass du das fertig kriegst“. Ein Lob hörte ich nie aus ihrem Munde. Meine Mutter stand dann gerade aus dem Bett auf und brauchte ihre Rationen. Eigentlich hatte sie Krankengymnastin gelernt. Nach einem Aufenthalt in der Nervenklinik 1970 in Gehlsdorf und einer Operation war von Berufstätigkeit nicht mehr die Rede. Schon mit 40 Jahren bekam Mutter eine Berufsunfähigkeitsrente. Was da wirklich im Krankenhaus gewesen ist, haben wir nie erfahren.

Meine Vater und meine Mutter hatten aus Liebe geheiratet. Durch die Geburt von zwei Kindern in den ersten zwei Ehe-Jahren fühlte sich Mutti vollkommen überfordert. Deshalb wuchs ich bis zum sechsten Lebensjahr bei meinen Großeltern mütterlicherseits in Wismar auf. Zwei wirklich liebe alte Leute, die sich die größte Mühe gaben. Aber Mutter ist eben Mutter. Wie habe ich meine Schwester beneidet, die bei ihr leben durfte. Diese war dann auch ihr Liebling, Haushaltsarbeiten wurden von ihr fern gehalten. Eigenartigerweise hat Helga nicht wie ich Verantwortung gespürt und übernommen, für das, was in unserer Familie passierte. Ihr Verhalten mir gegenüber war geradezu prinzessinnenhaft. Oft machte sie sich lustig über mich, das tat mir sehr weh, aber ich war nicht in der Lage, mich zu wehren.

Meine geliebten Großeltern kamen jedes zweites Wochenende zu uns   nach Lütten-Klein und sorgten für Ordnung in der Wohnung. Außerdem fuhr ich mit meinem Bruder in den Ferien zu ihnen. Sie kümmerten sich um meine schulischen Belange. Dafür war jeden Tag eine bestimmte Zeit eingeplant.

Über mich habe ich nie geredet. „Was geht es andere Leute an, wie es dir geht“, war der Spruch meiner Oma. Daran hielt ich mich und beklagte mich nie.

Ich hatte keine Zeit zum Lernen, war überfordert von den täglichen nicht enden wollenden Verpflichtungen. Die Hausarbeiten erledigte ich oft noch abends im Bett, im Halbdunkel mit der Taschenlampe. Trotzdem bin ich in der Schule ganz gut mitgekommen und konnte dann später meinen Bruder beim Lernen unterstützen.  Er war erst zehn, als Mutter uns verließ. Für mich war es nicht nur eine Verpflichtung, sondern selbstverständlich, ihn groß zu machen. Kurz vor der Wende ist er über Ungarn abgehauen, er hat sich hervorragend entwickelt, macht jetzt einen tollen Job. Außerdem ist er ein bewundernswerter Koch. Das Kochen brachte ich ihm in unserer Kindheit bei. Eine Art Helfersyndrom haben wir beide, sicherlich daher, weil wir sehr früh soziale Verantwortung übernehmen mussten.

Natürlich wurde meine Gutmütigkeit in meinem Umfeld ausgenutzt. Da musste ich schon hin und wieder die Klagemauer oder der Mülleimer sein. Um NEIN sagen zu können, ging ich einen langen Weg. Es ist ja ein gutes Gefühl, wenn man von anderen geachtet wird, sie mit einem über private, vertrauliche Dinge reden wollen. Heute kann ich ganz gut einschätzen, wann es Sinn macht, jemanden zur Seite zu stehen, ohne mich unbeliebt zu machen.

Jemanden betuteln zu müssen, schon eine übertriebene Fürsorge hat sich bei mir extrem ausgeprägt. Immer will ich etwas abnehmen, hilfsbereit sein. Als meine Tochter zu mir sagte: „Mutti, du musst mir nicht mehr den Arsch abwischen“! wurde mir klar, dass es manchmal vielleicht des Guten zu viel war. Plötzlich stellte ich fest, dass ich nach all den Jahren der Verantwortung für andere zu wenig oder gar nichts für mich selbst getan habe. Das ist mir früher gar nicht aufgefallen. Ich bin dann einfach so mal nach Marokko gefahren. Jetzt gelingt es mir, ganz bewusst Zeiten des Genießens für mich einzuplanen.

Immer wieder bekam ich von Oma und Opa zu hören: „Sie kann nichts dafür, sie ist krank. Du musst Rücksicht nehmen und sie unterstützen“. Es war oft viel zu viel für mich, da ich nicht klagte, merkten sie es gar nicht.

Nie sprach ich über die Angewohnheit ihrer Tochter, alle Krankheiten sofort auch bei sich selbst festzustellen, die irgendwo in der Nachbarschaft auftauchten. Sei es Fußpilz, Angina, eine Flechte oder seien es Läuse. Sofort rannte sie in die Apotheke, um Medikamente zu holen, die sie in großer Angst auch uns Kindern einflößte. Um meinen Bruder zu schützen, habe ich dann später immer gesagt: „Lass mal mich das machen“, die Tabletten habe ich verschwinden lassen.

Die Eltern väterlicherseits wohnten in Altenburg, dorthin fuhren wir in den Ferien immer für zwei Wochen im August hin. Nach Rostock kamen sie nur ganz selten. Sie waren froh, dass sie als Aussiedler eine neue Heimat gefunden hatten.

Mein Vater war als Diplom-Sportlehrer viel unterwegs, konnte gar nicht richtig registrieren, was sich abspielte, wenn er in anderen Städten arbeitete. Um Streit zu vermeiden hat er vieles ignoriert oder gar verdrängt. Wenn Papa da war, kochte er ein tolles Essen und gut war. Erst viel später, als es schon zu spät war, redeten wir miteinander und die Erwachsenen zogen ihre Konsequenzen – Scheidung.

Wenn es die Zeit irgendwie zuließ, zog ich mit dem Kinderwagen mit meinem kleinen Bruder drin zu Schulkameraden. Conny hieß meine Freundin. Zu ihr habe ich noch heute Kontakt. Wir kennen uns so unwahrscheinlich gut und können uns dadurch in allen Dingen des Lebens Beistand leisten. Oft spürt schon die eine, wenn bei der anderen etwas nicht in Ordnung ist. Diese Freundschaft ist ein ganz großes Geschenk für mich, na gut, etwas tun muss man natürlich auch dafür. Wir sehen uns ziemlich regelmäßig und es ist durchaus so, dass wir uns im positiven Sinne brauchen.

Connys Vater fuhr damals zur See. Meist war die Mutter allein mit den drei Kindern, die genauso alt waren wie wir. Sauwohl habe ich mich gefühlt, weil dort alles so sauber und ordentlich war. Ich wagte es nicht, Mitschüler oder Freunde zu uns einzuladen, wegen der Möhl und des Drecks habe ich mich geschämt. Nur an meinem Geburtstag feierten wir in unserer Wohnung mit anderen Kindern. Dann musste ich aber Wochen vorher anfangen, die Bude zu schrubben. Sonst wäre das peinlich geworden. Meine Erziehungsberechtigte hat sich an diesem Tag errstaunlicherweise zusammengerissen.

Oft sagte ich in meinem Umfeld, dass ich mir vorkäme wie Aschenputtel. Vor allem dann, wenn mich jemand wegen meiner Umsichtigkeit und Selbständigkeit lobte. Mit freundlichem Entgegenkommen konnte ich nicht umgehen. Mein Selbstbewusstsein war nicht gut entwickelt, weil meine Schwester immer vorgezogen und mir als Vorbild hingestellt wurde. Das ist vielleicht einer der Gründe, weshalb wir uns erst in letzter Zeit wieder einander nähern. Lange war da ein Desinteresse.

In der 10.Klasse stellte ich resigniert fest: “Die Alte braucht dich doch nur als Putze und als Kindermädchen.“! Ein Mutter-Kind-Verhältnis gab es nie zwischen uns. Oft fühlte ich mich von der ganzen Verantwortung erschlagen. Am schlimmsten war für mich, dass sie durch den enormen Tabletten- und steigenden Alkoholkonsum gar nicht mehr zu erreichen war. Und dann diese für mich die nicht übersehbaren Lügen. Als ihre Nachbarin ihren Partner verlor, verabschiedeten sich die beiden abends aus fadenscheinigen Gründen und zogen um die Häuser. Da ging es von einer Kneipe zur anderen, Männer waren auch mit im Spiel, oft kam Mutter nachts nicht nach Hause.

Das war dann der Punkt, an dem ich mit meinem Vater redete. Betrunken fanden wir sie in einer Gastwirtschaft. Endlich gingen meinem Erzeuger die Augen auf, was in seiner Abwesenheit passierte. Es war einfach nicht mehr zu übersehen. Folge war die einvernehmliche Scheidung. Auf uns Kinder legte meine Mutter keinen Wert. Allerdings mussten wir noch eine geraume Zeit mit ihr in der Wohnung leben. Ihr war ein Zimmer sowie

Bad- und Küchenbenutzung zugesprochen worden. Das war eine sehr unangenehme Zeit. Wir Kinder und auch Vater hatten keinen Respekt vor ihr. Nach einer heftigen Auseinandersetzung wurden wir sie durch das Einschreiten des Jugendamtes los.

Bis heute nehme ich keine Medikamente und Ehrlichkeit war eine der wichtigsten Eigenschaften, die ich meinen Kindern vermitteln wollte.

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